Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat seine Rechtsprechung zur Erschütterung des Beweiswerts von ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AUB) mit Urteil vom 18.9.2024, Az. 5 AZR 29/24 bestätigt, fortgesetzt und konkretsiert. In dieser Entscheidung hat das BAG zusammenfassend entschieden,
- dass bei der Kündigung durch den Arbeitnehmer der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) erschüttert werden kann, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar nach dem Zugang der Kündigung erkrankt und nach den Gesamtumständen des zu würdigenden Einzelfalls Indizien vorliegen, die Zweifel am Bestehen der Arbeitsunfähigkeit begründen. Hierauf deutet insbesondere eine zeitliche Koinzidenz zwischen Kündigungsfrist und Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit hin und
- dass für die Erschütterung des Beweiswerts einer AUB aufgrund der zeitlichen Koinzidenz es nicht erforderlich ist, dass der Arbeitnehmer Kündigung und AUB gleichzeitig übergibt. Ausreichend ist insoweit ein enger zeitlicher Zusammenhang
Bedeutung der Entscheidung für die Praxis
- Mit dieser Entscheidung bekräftigt der 5. Senat seine bisherige Rechtsprechung zur Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AUB), die nach einer Kündigung ausgestellt werden. Der Beweiswert einer AUB wird als erschüttert angesehen, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar nach Erhalt einer Kündigung durch den Arbeitgeber erkrankt (BAG 8.9.2021 – 5 AZR 149/21, BAGE 175, 358 Rn. 19 f. = NZA 2022, 39). Diese Grundsätze gelten ebenfalls für Erkrankungen, die nach dem Zugang einer Kündigung durch den Arbeitgeber auftreten (BAG 13.12.2023 – 5 AZR 137/23, NZA 2024, 539 Rn. 18).
- Der Senat erläutert nun, dass für die erforderliche zeitliche Koinzidenz im Falle einer Erkrankung nach einer Arbeitnehmerkündigung keine gleichzeitige Übergabe von Kündigungsschreiben und AUB notwendig ist. Ein „enger zeitlicher Zusammenhang“ ist ausreichend. Der Senat verweist hierbei auf seine frühere Rechtsprechung zur Einheit eines Verhinderungsfalls. Ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen zwei Verhinderungsfällen besteht demnach, wenn zwischen ihnen lediglich ein arbeitsfreier Tag oder ein arbeitsfreies Wochenende für den erkrankten Arbeitnehmer liegt (BAG 11.12.2019 – 5 AZR 505/18, BAGE 169, 117 Rn. 21 = NZA 2020, 446). Der Senat scheint anzunehmen, dass grundsätzlich jede Arbeitsleistung zwischen dem Zugang der Kündigung und der Erkrankung die zeitliche Koinzidenz zwischen Kündigungsfrist und Erkrankung aufhebt. Dies könnte jedoch bei nur geringfügigen Arbeitsleistungen fragwürdig sein.
- Der Senat stellt jedoch klar, dass die Erschütterung des Beweiswerts einer AUB auch auf andere Faktoren gestützt werden kann und eine umfassende Betrachtung erfordert. Neben dem zeitlichen Zusammenhang zur Kündigung sind insbesondere Verstöße des ausstellenden Arztes gegen die Vorgaben der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie sowie das Verhalten des Arbeitnehmers nach der Kündigung zu berücksichtigen.